WOMAN Kolumne: Die Kunst, nein zu sagen

Die Kunst, nein zu sagen / WOMAN Magazin Ausgabe 21. Oktober 2021 

 

„Stopp“ – und „Nein“: Worte, die Überwindung kosten. Weil ein „Ja“ zu allem und jedem bequemer ist. Damit wollen wir Harmonie erzeugen, scheinbaren Konsens: Wir gefallen und schwingen auf gewisse Weise mit. So werden Konflikte vermieden. Außerdem führt ein „Ja“ dazu, sich gebraucht zu fühlen. Das betrifft den Umgang mit anderen Menschen genauso wie den Umgang mit uns selbst oder den Medien. 

 

In diesem Zusammenhang habe ich einen neuen Begriff entdeckt: „Doom scrolling“. Übersetzt bedeutet er „verdammnisblättern“. Klingt komisch. Und trotzdem ist es vertraut. Es meint die Eigenart, so lange in den sozialen Medien zu scrollen, bis wir negative Schlagzeilen gefunden haben. Weil das Negative einen Kick erzeugt – Schlüssellocheffekt inklusive. Und so fahndet unser Kopf permanent nach „Sensationen“.  In welchen Gemütszustand wir rutschen, wenn wir andauernd Negatives oder aber nicht zu uns Passendes aufnehmen, liegt auf der Hand. Wenn wir uns mutig fühlen wollen, offen, gelassen und entspannt, ist das der denkbar schlechteste Weg.  

 

Die gute Nachricht: Es gibt wirksame Zauberworte. Sie heißen „Stopp!“ und „Nein!“ Verbale Rettungsanker, die uns helfen, energieraubende Handlungsweisen zu unterbrechen und bei uns zu bleiben. So können wir Grenzen ziehen – im täglichen Leben und Miteinander. Das muss keineswegs ungut rüberkommen. Der Ton macht die Musik. Freundliche Entschlossenheit zählt. Bei einem verwaschenen oder leisen „Nein“ wird der gewünschte Effekt ausbleiben. Eltern wissen genau, wie das ist, wenn sie zu ihrem Kind „Nein“ sagen, es aber in Wahrheit nicht so meinen. Das Kind spürt das, als hätte es eine Antenne dafür. Wenn das „Nein“ aber zu unserer innersten Überzeugung passt, klar und deutlich ausgesprochen wird, dann kommt es an. Und dann genügt es auch, muss also nicht gerechtfertigt oder erklärt werden. „Nein ist ein vollständiger Satz“, heißt es in einem Zitat. So ist es. Ein freundliches, ausgerichtetes „Nein“ erklärt sich von selbst.  

 

Denken Sie einmal nach: Was machen Sie, wenn Sie jemand bittet, eine unangenehme Arbeit zu übernehmen, die gar nicht in Ihr Aufgabengebiet fällt? Stimmt, das „Ja“ ist uns näher. Wir wollen entsprechen, gefallen – also tun wir, was wir im Grunde nicht tun wollen. Nein sagen hingegen ist eine Frage der Achtsamkeit und Bewusstheit – und eine Kunst, die wir üben können. Dazu verrate ich Ihnen einen Trick, der mir sehr geholfen hat: Ich nehme mir eine kurze Bedenkzeit. Halte inne. Oft werden wir mit Fragen zu Entscheidungen überrumpelt. Viele Menschen neigen dazu, schnell „Ja“ zu sagen, obwohl sie es nicht meinen und möchten. Wenn Sie also das nächste Mal jemand fragt, ob sie seine Arbeit übernehmen können, versuchen Sie es doch mit folgender Alternative: „Ich schaue mir meine Termine an und melde mich morgen, ob es möglich ist oder nicht.“ Das schafft Raum für Reflexion, um nachzuspüren, was wir wirklich wollen. Sich eine Bedenkzeit zu nehmen, zumindest aber eine kurze Atem-Pause, kann ein Meilenstein zu einem überzeugten, authentischen „Nein“ sein.  

 

Und wie drücken wir die Stopptaste – wo genau ist sie überhaupt?  In unserem Inneren. Dort wird die Entscheidung gefällt. Ist sie dort felsenfest verankert und sind wir uns ihrer bewusst, dann ist das JA oder NEIN im Außen viel einfacher zu vertreten. Ist diese innere Taste noch nicht gedrückt, hilft ebenfalls eine kleine Pause. Mit einem „Dazu möchte ich mir zwei Tage Bedenkzeit nehmen“ oder „Ich melde mich morgen mit einer Rückmeldung dazu“ gewinnen Sie Zeit, um diese Taste zu suchen – und zu finden. Zeit bringt Klarheit. Ich stelle mir diese Stopptaste gern wie ein Lauftraining vor. Je öfter ich ein „Stopp“ schaffe, desto schneller werde ich. Die Bedenkzeit wird irgendwann ganz verschwinden, weil ich „trainiert“ bin. Das ist das Ziel: Schnell jenes Wort zu formulieren, das zu meiner inneren Überzeugung passt.  Genauso können wir lernen, zu uns selbst nein zu sagen. Das ist vielleicht nicht einfach, aber es funktioniert: NEIN, ich lese jetzt nicht noch zwanzig Artikel. NEIN, ich antworte nicht sofort auf das Mail. NEIN, ich lasse den Laptop am Sonntag zu. STOPP, für heute ist es genug. Dieser „Ja/Nein-Muskel“ gehört unermüdlich trainiert, stets mit der Frage verbunden, was ich wirklich will. Damit bejahen wir uns selbst:  Ja, ich darf es mir erlauben, jemanden warten zu lassen. Ja, ich darf auch einmal nicht erreichbar sein. Ja, ich darf die Tür meines Arbeitszimmers schließen, um kurz „unsichtbar“ sein. Ja, ich darf das Handy lautlos schalten. Ja, ich darf die Nachrichten schwänzen und nix wissen. All das ist ein Zeichen für Selbstfürsorge. Im Sinne eines Ja, ich bin es mir wert.