WOMAN Kolumne: Die Kunst, ehrlich zu sein

Die Kunst, ehrlich zu sein / WOMAN Magazin Ausgabe 02. Dezember 2021 

 

Wann haben Sie zuletzt geflunkert? Keine Sorge: Die meisten Menschen tun das – viele Male pro Tag, beruflich wie privat.  Einige schummeln eher beim Spielen, andere vertuschen Fehler oder Unzulänglichkeiten, manche haben Geheimnisse. Warum nur? Meist aufgrund unbewusster Motive. Wir sagen nicht die Wahrheit, um uns oder jemanden zu schonen („Notlüge“), wir tun so als ob, um andere nicht vor den Kopf zu stoßen („Höflichkeitslügen“), und gelegentlich machen wir etwas, das wir gar nicht wollen. Gehen zum Beispiel zu einer Party, obwohl wir lieber daheimbleiben möchten. Sagen, dass es uns gut geht, obwohl alles miserabel läuft. Menschen schwindeln nicht, weil sie es böse meinen. Nein. Lügen kompensieren und fungieren als sozialer Kitt machen uns das Leben auf den ersten Blick leichter.

 

Trotzdem ist Ehrlichkeit der Anfang von vielem. Die Basis für ein authentisches Leben und persönliche Weiterentwicklung. Allem voran gibt es eine Ehrlichkeit, die besonders wichtig ist und zugleich am schwierigsten ist: nämlich jene zu sich selbst. Damit sind wir beim Begriff „Wahrhaftigkeit“. Oft wird Ehrlichkeit mit Wahrhaftigkeit gleichgesetzt, was nicht präzise ist. Wer wahrhaftig lebt, lügt weder sich selbst noch andere an. Am meisten zählt aber folgendes: Der wahrhaftige Mensch steht zu sich selbst. Zu dem, wie er denkt, fühlt, tut, lebt. Er ist echt und versucht nicht, sich eine Scheinwelt zu erschaffen, in der alles immer nur happy, chillig und rosafarben ist. Das erfordert Mut – nämlich Dinge, anzunehmen wie sie sind. Das ist nicht immer einfach, im Gegenteil. Doch die Übung kann gelingen.

 

Meditation und die tägliche Achtsamkeitspraxis haben mir diesbezüglich große Dienste geleistet. Denn durch das Innehalten, Hineinhören und Bemerken, was „es“ in mir denkt, erkenne ich, wo ich mich beschummle. Als Beispiel oben erwähnten Partythemas: In uns erklingt ein „Nein ich will da heute hinfahren, ich fühl mich nicht besonders“. So lautet die Botschaft an uns selbst und die anderen. Wer im Rahmen einer meditativen Viertelstunde genau in sich hört, wird noch ein „Dahinter“ entdecken. Dann könnte der Satz in aller Ehrlichkeit vielleicht so lauten: „Ich will den Besuch bei jener Person oder der Veranstaltung nicht machen, weil ich einen unausgesprochenen Konflikt mit diesem Menschen habe, den ich mich nicht anzusprechen traue. Oder weil ich Angst habe, dort irgendwen zu treffen – zum Beispiel den Expartner oder die Exchefin. 

 

Warum das so ist? Ganz einfach: Wir vermeiden gerne Dinge, in denen ein stiller Konflikt schlummert, aber der Mut zu einer ehrlichen Betrachtung noch nicht da ist. Dann machen wir eine Ausweichbewegung. Hier setzt die Meditations- und Achtsamkeitspraxis an. Innehalten hilft, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Das wiederum führt dazu, dass es zunehmend leichter fällt, über den eigenen Schatten zu springen und etwas zu verändern. Es ist dann nicht mehr so einfach, alles unter den Teppich zu kehren und so zu tun also ob. Wir sehen und spüren, was wirklich ist – handeln danach. Wir stehen endlich zu uns, lernen unsere Bedürfnisse besser kennen, erfahren mehr von dem, was wir wirklich wollen und brauchen. Wir halten inne, bevor wir lügend loslegen, unsere Partner und Freunde anschwindeln, die Eltern und sogar die eigenen Kinder. Letztere durchschauen uns meist sowieso.

 

Mediation hilft also, sich weniger auszutricksen oder Dinge zu verharmlosen – wir entwickeln den Mut, dem Leben ins Auge zu schauen, und wenn’s manchmal das „Auge des Sturms“ ist. Es ist so wichtig zu fühlen, was alles da ist – das ganze Kaleidoskop an Für und Wider, an Abneigung und Zuneigung, an echten Empfindungen. Egal, was hochkommt: Es ist ein Teil von uns und als solcher wert, gewürdigt zu werden. Und dann? Langsam. Diese Praxis braucht Zeit, ein Schritt nach dem anderen. Wir sind alle nur Menschen. Aber wir können zu ehrlicheren Menschen werden. Meine Freundinnen wissen mittlerweile, dass ich kein Bauchweh meines Kindes erfinde, wenn ich zu einer Einladung nicht kommen kann. Ich sage es, wie es ist. Dass ich sie von Herzen mag, aber heute eine Auszeit brauche oder ich im Arbeitsflow bin, den ich nicht unterbrechen möchte. Das Schöne: Andere Menschen schätzen diese Ehrlichkeit mehr, als wir vermuten. Weil es die Qualität des Miteinanders verbessert und wir das Gefühl haben: Das ist echt! Nur so gedeihen wahrhaftige Beziehungen. 

 

Das Jahr endet bald, eine Idee:  Wie wäre es, wenn wir uns Ehrlichkeit auf die Liste der Neujahrsvorsätze schreiben?